Texte zur Ausstellung

 
Laudatio vom 26. Januar 2024

Wie an Gewalt erinnern?

Dr. Steffi Hobuß
Academic Director of Liberal Education und Wissenschaftliche Programmleitung Studium Individuale an der Leuphana Universität Lüneburg

Die künstlerischen Arbeiten von Eva Beth und Torsten Oelscher behandeln exakt diejenigen Fragen, die mich als Philosophin und Kulturwissenschaftlerin auf wissenschaftlichem Gebiet schon lange umtreiben: Wie lässt sich mit Gewalterfahrungen umgehen, sei es sprachliche Gewalt, physische, individuell oder kollektiv ausgeübte Gewalt? Und wie können wir umgehen mit den Erinnerungen an Gewalterfahrungen, die oft auch traumatischen Charakter haben, so dass die Erinnerung immer auch das Trauma wieder wachruft?
Die internationale Forschung zur Erinnerung und zu Fragen des kollektiven Gedächtnisses zeigt: Erinnerung ist nicht privat. Das bedeutet, dass schon unsere individuellen, persönlichen Erinnerungen auf soziale Rahmen angewiesen sind, ohne die sie nicht zustandekommen und bleiben könnten. Daher sind individuelle und kollektive Erinnerungen immer Ergebnisse sozialer Aushandlungsprozesse, und niemand kann einfach willkürlich darüber verfügen, welche Inhalte wann und wo erinnert oder vergessen werden sollten.
Jan und Aleida Assmann haben mit dem Satz „Niemand lebt im Augenblick“¹ darauf aufmerksam gemacht, dass sich Forderungen nach bestimmten Inhalten oder Weisen des Gedenkens oder Vergessens den jeweiligen historischen Traditionslinien nicht entziehen können. Das war schon 1998 – Hintergrund war die öffentliche Debatte um Martin Walsers Rede in der Frankfurter Paulskirche zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, in der er gesagt hatte, Auschwitz sei zur „Moralkeule“ geworden, und die Erinnerung an die Shoah müsse dem individuellen Gewissen überantwortet werden.
Die Sprache und die Erinnerung kann man sich in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit voneinander denken: Menschen können sich nur erinnern, wenn sie irgendeine Art der Sprache haben, was bedeutet, zu einer Gruppe zu gehören, die einen gemeinsamen Sprachgebrauch pflegt, und sie können nur sprechen, wenn sie eine Sprache gelernt haben, wofür sie die Fähigkeit zur Erinnerung brauchen. Dieses wechselseitige Verhältnis hat Maurice Halbwachs explizit untersucht. Seine Theorie von der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses sieht die entscheidenden Voraussetzungen für die Erinnerung darin, dass einzelne Menschen als Träger:innen des individuellen Gedächtnisses grundsätzlich soziale Wesen sind, die immer in eine Gemeinschaft eingebunden ist. Die „Treue unseres Gedächtnisses garantieren“ (so Halbwachs und auch Ludwig Wittgenstein in seiner Sprachphilosophie), kann nur eine Gruppe von Menschen, weil erst in einer Gruppe die Praktiken des Denkens und des Vergleichens möglich sind.
Dadurch eignet der Erinnerung immer auch ein konstruktivistisches Moment: Erinnerung ist kein simpler Spiegel der Vergangenheit, sondern eine „sich in der Gegenwart vollziehende Operation der Zusammenstellung (re-membering) verfügbarer Daten“². Das bedeutet, die Erinnerung steht immer im Spannungsfeld zwischen Performativität und Repräsentation. In welcher Weise, so lässt sich fragen, bezieht sich die Erinnerung dann auf die Vergangenheit? Hier ließe sich von einem „Doppelcharakter“ der Erinnerung sprechen: Zusätzlich zur performativen, nicht-abbildenden Seite der Erinnerung ließe sich eine gleichsam „materialistische“ Seite geltend machen und fragen, woher Berufungen auf die Wahrheit von Erinnerungen ihr Recht beziehen. Dies ist immer noch und wieder gerade im Kontext der Erinnerung an die Shoah eine wichtige Frage, weil derzeit die letzten Zeitzeug:innen sterben und neue rechte Bestrebungen Definitionsansprüche auf zukünftige Erinnerungskultur erheben.
Die fotografischen Arbeiten von Eva Beth und Torsten Oelscher lichten eine Realität ab, die nicht zu fassen ist; sie geben daher keine realistischen Abbilder der geschehenen Gewalttaten. Zum einen geht es hier um historische Gewalt und vergangenes Unrecht, das als solches eben vergangen ist, auch wenn es bis heute massive Wirkungen zeitigt. Zum anderen ist in der Forschung die ehemalige Vorstellung längst fraglich geworden, dass die Fotografie per se die Vergangenheit dokumentiert oder ein Zeugnis der Vergangenheit liefert. Auch Fragen der fotografischen Darstellbarkeit der Geschichte werden also aufgerufen.
Die Arbeiten, die hier zu sehen sind, lassen sich in den Kontext der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie einordnen, im dem historische Orte und historische Gewalterfahrungen zwar thematisiert werden, aber die Orte „leere Bühnen“³ bleiben, ohne dass verletzte oder tote Menschen, Waffen oder Kriegshandlungen abgebildet werden. Nur scheinbar gibt es hier eine Diskrepanz zwischen der Ästhetik der Fotografien auf der einen Seite und dem Ausmaß der verübten rohen Gewalt und dem daraus resultierenden Leid auf der anderen Seite. Denn dadurch widersetzen sie sich einem schnellen Konsum oder einer schnellen Kategorisierung wie auch der Gefahr einer passiven Affirmation, sondern sie fordern die Betrachter:innen auf, selbst Position zu beziehen, auch emotional.
Die fotografischen Arbeiten ermöglichen eine (Annäherung an die) Auseinandersetzung mit der geschehenen Gewalt, ohne die viel zu oft nur reflexhaft stattfindenden Reaktionen zu provozieren, seien es klischeehafte Pseudobetroffenheit, Über-Konventionalisierung, oder aber die gleichermaßen schlimme Verweigerung und Verdrängung. Sie sind ein Beispiel dafür, dass Erinnerung nie einfach in einer schlichten Abbildung einer Vergangenheit besteht. Und sie widersetzen sich der Wiederholung des Traumas. Wie können Gewalterfahrungen thematisiert werden ohne Retraumatisierung auf der einen oder Verdrängung auf der anderen Seite? Kann es hier überhaupt so etwas wie „Heilung“ (Kader Attia) geben? Die fotografischen Arbeiten zeigen einen zutiefst bewegenden, schmerzhaften, aber möglichen Weg.
Die Erinnerung und das Erinnern sind nicht willkürlich-souverän beherrschbar, sondern sie werden stets implizit oder auch explizit ausgehandelt, gelegentlich auch gewaltsam oder sogar in Form des Krieges. Hierdurch wird die Kategorie der individuellen Verantwortung nicht geschwächt, sondern im Gegenteil sogar gestärkt, denn es lastet ein großes Schwergewicht auf der Rolle, die jede:r Einzelne im Prozess dieses Aushandelns einnimmt. Sprechen heißt handeln, Erinnern heißt handeln, und Erinnern heißt auch kämpfen, wenn es nämlich darum geht, bestimmte Dinge klar zu erinnern, damit den Opfern eine Sichtbarkeit zu geben und dafür einzutreten, dass rechte und sexistische Gewalt keinen Platz in unserer Gesellschaft haben soll.

¹ DIE ZEIT 3.12.1998.
² Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 7.
³ Sonja Feßel: Leere Bühnen. Historische Orte in der zeitgenössischen Fotografie.- Kromsdorf 2018.


Erinnerungen sind alles, was wir haben

Anna Maria Katz
Fachbereichs- & Museumsleiterin beim Bezirksamt Lichtenberg von Berlin

Seitdem das Künstlerpaar Eva Beth und Torsten Oelscher im Jahr 1985 ihre gemeinsame Leidenschaft für die Fotografie entdeckten, arbeiten sie gemeinsam an unterschiedlichen Themen in Form von Auftragsarbeiten wie auch in freien künstlerischen Arbeiten.
Tätigkeiten für international bekannte Unternehmen im Bereich der Mode und Werbung, wie bspw. Universal Music, Vogue Italy oder Louis Vuitton, ermöglichten ihnen nicht nur die finanzielle Grundlage für ihr künstlerisches Schaffen. Sie eröffneten ihnen zudem einen Einblick in eine Welt der Schönheit und Ästhetik, aber auch einer Welt des oberflächlichen Scheins und des strukturellen Missbrauchs.
So fand das komplexe und sensible Thema der Gewalt Eingang in das künstlerische Schaffen des Künstlerpaares. Auf gesellschaftlicher, struktureller und politischer Ebene erkunden sie Spuren von Gewalt, die Geschichte und Gegenwart prägen, etwa in Form von Ausgrenzung, Widerstand oder Ausbeutung.
Ein Schlüsselmoment bildete ihre Begegnung mit dem französischen Filmregisseur Claude Lanzmann im Jahr 2008. Diese Begegnung bekräftigte das Künstlerpaar darin, dass sich jeder Einzelne nicht nur mit der eigenen individuellen Erinnerung, sondern auch mit dem kollektiven Gedächtnis und der kulturellen Vergangenheit auseinandersetzen muss. Denn Erinnerungen sind alles, was wir haben.
Wie aber kann oder soll Fotografie persönliche Erinnerung oder das kollektive Gedächtnis abbilden? Was kann oder soll Fotografie im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, der Medialisierung und Digitalisierung in diesem Zusammenhang überhaupt leisten?
Die Fotografie ist mehr als das Festhalten von flüchtigen Momenten, mehr als die technische Vervielfältigung oder reine Abbildung der Realität. Fotografie ist in der Lage mehrere Realitäten, Orte und Zeiten gleichzeitig darzustellen. Und sie kann Immaterielles festhalten oder Verbogenes sichtbar machen wie bspw. Emotionen, Gefühle, aber auch Spuren der Geschichte und derart Erinnerungen.
Die Arbeiten von Beth und Oelscher machen dies deutlich und weisen neben ihren handwerklichen Fertigkeiten und ihrer künstlerischen Finesse einen direkten und unverstellten Blick aus. Ihre Auseinandersetzung mit Erinnerung in Form der Darstellung von bspw. Orten oder Personen erscheint zunächst sachlich und objektiv. Es ist eine sensible und unaufdringliche Wahrnehmung, die den beiden eigen ist. Jedoch liegt eben darin die Stärke ihrer Werke. Sie drängen sich dem Betrachter nicht auf, sondern geben diesem die Möglichkeit, zunächst an der Oberfläche zu verharren und sich dann eigenmächtig in die Untiefen des Abgebildeten zu begeben, um sich immer weiter mit den darin enthaltenen Spuren fragmentierter Realität und Gewalt auseinanderzusetzen.
Beth und Oelscher vermögen es dabei aufzuzeigen, dass in der größten Verletzlichkeit der Menschen und ihrer schlimmsten Erinnerung, die größte Stärke liegt. Sie machen zudem deutlich, dass jede Form der Gewalt und des Antisemitismus abgelehnt wird, indem das Phänomen erkannt, benannt und thematisiert wird.
Die Welt auf eine neue Weise betrachten, Offensichtliches aufzeigen, Verborgenes aufdecken.
Das hat sich das Künstlerpaar als Aufgabe gesetzt.
Denn Erinnerungen sind alles, was wir haben.


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